Nothing Is Written | Werkreihe

Foto: Günter Wintgens
Foto: Günter Wintgens

Als Kind bin ich nach Hause »geflogen«. Egal, wo oder mit wem ich gerade spielte. Samstag- und Sonntagnachmittags hatte ich unumstößliche Termine. Eine faszinierende Parallelwelt erwartete mich, in schwarzweiß und, sehr viel später, in Farbe: Spielfilme. Ich schaute mir alles an, Erstklassiges, aber auch Drittklassiges. Ich musste eintauchen in diese geheimnisvolle Welt, die mich mit ihren unendlichen Schattierungen des Lichts zwischen Schwarz und Weiß gefangen nahm. »Tarzan«, »King Kong«, »Leoparden küsst man nicht«, Abenteuerfilme, Gangsterfilme, Film Noir, Musicals. Fred Astaire, der über die Leinwand schwebte und John Wayne, der sich den Weg freischoss. Dann die Vorabendserien, »Daktari«, »Flipper«, »Kobra, übernehmen Sie« und natürlich »Raumschiff Enterprise« – »Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.« Es ließ mich nie wieder los, fasziniert, dem Geheimnis auf der Spur, jedoch ohne das zwingende Bedürfnis, die Filme ihrer Rätselhaftigkeit wirklich berauben zu müssen. Wichtiger war und ist es mir, das Geheimnis zu erahnen und hineinzutauchen. Meine Arbeit kann man folglich als die „Niederschrift“ eines autobiographischen Aspektes verstehen.

 

Die Rätselhaftigkeit – und Verzauberung – liegt für mich zum einen in dem besonderen Entstehungszusammenhang des Films begründet: Imagination und Illusion als Ergebnis eines spannungsreichen Zusammenspiels einer Heerschar von Menschen, technisch-physikalischer Vorgänge, verschiedenster Materialien und Transformationen von der ersten Idee bis zur Nachbearbeitung. Die einzelnen Faktoren bei der Produktion von Filmen sind für sich genommen natürlich wahrnehmbar und erklärbar. In ihrem Zusammenkommen verdichten sie sich jedoch jedes Mal zu etwas völlig Neuem, was sich nicht mehr auflösen lässt und durch kein anderes Medium zu ersetzen ist.

 

Auf der Spur nach dem Geheimnis des Films fesselt mich besonders das geschriebene Wort in Form von Vorspann, Nachspann, Untertitel oder Zwischentitel. Im Gegensatz zu der Macht eines oft lange nachwirkenden Bildes erscheint die Schrift im Film als eine hochflüchtige Angelegenheit. Sie ist nicht greifbar, man kann im Kino nicht zurückblättern wie in einem Buch, die Schrift „zerrinnt“ bereits im Augenblick ihres Erscheinens, wenn sie denn vom Betrachter überhaupt wahrgenommen wird. Der Text transportiert überdies nicht nur reine Information, sondern er erzeugt auch ein Bild und damit eine ganz eigene Form der Ästhetik.

 

Von zentralem Interesse ist für mich jedoch, dass die geschriebenen Teile eines Films den gesamten Film auf unterschiedlichen Ebenen „erzählen“. Während man mit einem Unter- oder Zwischentitel Teile einer Handlung rekonstruieren könnte, beinhaltet der Abspann in »epischer« Länge den vollständigen Film mit all seinen unterschiedlichen Aspekten. Das Pendant zu dieser nahezu meditativ fließenden Ausdehnung bildet das Kernstück am Ende eines Abspanns, nämlich das Gewerkschaftslogo mit der Produktionsnummer des Films bei den amerikanischen Spielfilmen. Hier findet man den vollständigen Film wie ein Samenkorn noch einmal in hoch komprimierter Form wieder.

 

Die Papierarbeiten der Werkreihe NOTHING IS WRITTEN haben eine mehr oder weniger wellenartige Oberfläche, die stark reflektiert oder matt schimmert – je nach Lichteinfall und Standort des Betrachters. Abhängig von dessen Position enthüllen und verbergen die Wellen gleichzeitig Schriftzüge, die als zeichnerische Ritzung in die Oberfläche, bestehend aus vielen Schichten schwarzer Schelllacktusche, gekerbt sind. Der Betrachter muss, um den Schriftzug etwa eines Abspanns erschließen zu können, selbst in Bewegung bleiben und seinen Standpunkt immer wieder ändern. Von einem entfernteren Standpunkt aus nimmt er zunächst eine schwarze, unterschiedlich stark schimmernde, ins Dreidimensionale spielende Oberfläche war. Erst bei einer Annäherung erkennt er Teile eines Textes in der Oberfläche, und erst wenn er sich sehr nahe vor der Arbeit befindet, kann er den Text entziffern. Jedoch bleibt dem Betrachter eine vollständige Entschlüsselung im Sinne einer Übersicht stets verwehrt.

 

Damit stoßen die Arbeiten einen gedanklichen Prozess an – das Bild, welches über den betrachteten Gegenstand hinaus entsteht, entwickelt sich im Kopf. Die Arbeiten der Werkreihe NOTHING IS WRITTEN entziehen sich einer Lösung des Rätsels, sie sind Ausdruck desselben.

 

Text: Susanne Koheil

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Nothing Is Written

Foto: Günter Wintgens
Foto: Günter Wintgens

Wahrlich, es würde euch bange werden,

wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert,

einmal im Ernst durchaus verständlich würde.[1]

Friedrich Schlegel

 

 

Die Faszination für den Film folgt prinzipiell aus seinem intermedialen Konzept. In ihm verdichten sich mannigfaltige Zusammenspiele und Interaktionen: seien es Durchdringungen und Vernetzungen der Künste, Vergleiche der Künste in motivgeschichtlicher, stilistischer, struktureller oder ästhetischer Hinsicht. Die Bildlichkeit wird auch zum zentralen Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Intermedialität.

 

Susanne Koheil reflektiert ihre Faszination für den Film nicht nur durch das Ereignis synästhetischer Erfahrung, sondern durch Transformation und Übergang aus dem filmischen Medium in das malerische. Ihre Neuformulierung der zwischenmedialen Zusammenhänge besteht darin, dass die Künstlerin die wichtigsten Informationsträger – die bewegten Bilder – völlig aus ihrem Konzept verbannt. Hier geht es um die Informationen, die im graphisch gestalteten Endelement des Films flüchtig vor dem ruhig sitzenden Zuschauer vorbeiziehen. Die Hinweise, Begriffe und Erwähnungen wie die Namen der Schauspieler, der Komponisten und Produzenten, der tatsächliche Drehort, technische Daten des Filmverfahrens, verwendete Linsensysteme, Verleihangaben, Danksagungen, Widmungen und andere bilden den Inhalt eines Abspanns und der ästhetischen Auseinandersetzung von Susanne Koheil.

 

Zunächst ist der Betrachter wahrscheinlich unsicher und irritiert, anstelle traditioneller Malerei etwas zu sehen, was auf den ersten Blick nur schwarz erscheint. Die schwarzen Papierbahnen wirken einerseits minimalistisch, ihre einheitliche Länge und Perfektion strahlt Selbstbezogenheit aus und bildet eine Spannung im Raum.

 

Andererseits geht es hier unter anderem um einen malerisch interpretierten Bezug zur Filmrolle und zum traditionellen Abspannhintergrund. Die Künstlerin konzentriert sich auf das Trägermaterial, dessen Beschaffenheit sie erkundet und mit dessen Eigenschaften sie experimentiert. So entsteht eine leichte Plastizität und Welligkeit der Oberfläche aus der Reaktion des Papiers auf die Schelllacktusche. Das Trägermaterial ist nicht einfach schwarz, es ist durch die zahlreichen Malschichten schwarz »geworden«. Die Bewegung auf der Fläche, die eine derartige Umformung des Materials mit sich bringt, spielt auf den laufenden Film an.

 

Die reliefartig organisierte Oberfläche lässt die weiteren Eigenschaften des Materials aufscheinen, sie gewinnt die Qualität einer bildlichen Textur, eines gewobenen Stoffes, der in sich die alte kulturgeschichtliche Form der Verschleierung, des Verbergens trägt. Aufgrund der textilen Struktur ist die Oberfläche des Trägermaterials bereits metaphorisch eng mit dem textuellen Gewebe des Wortes verbunden.[2] Das Wortflechten von Susanne Koheil resultiert aus der Übertragung des Abspanns, wobei ein Buchstabe nach dem anderen in der linearen Struktur der Schrift präzise ausgerichtet wird.

 

Der Text des Abspanns »zeigt sich« an den schwarzen Papierbahnen durch die Fakturen der Graphie, die die Künstlerin mit einem Bleistift einritzt. Der vertraute Umgang mit der Schrift und dem Prozess des Lesens wird dem Betrachter entzogen, denn die Wirksamkeit des Geschriebenen besteht aus einem Widerstreit zwischen Nähe und Ferne, zwischen Verschwinden in der Welligkeit und Bleiben an der Oberfläche. Nur aus der Nähe vermitteln die Schriftzüge ihre graphische Qualität, sie zwingen den Rezipienten, nicht vor dem ruhenden Schwarz zu erstarren, sondern sich zu bewegen und die Schriftzüge zu entdecken. Allerdings ermöglichen die Arbeiten durch ihre Größe, Faktur und Manifestationen des Lichts an der Oberfläche nicht, die gesamten Texte mit dem Blick zu umfassen und sie vollständig durchzulesen. So lassen sich die Präsenz des Schriftkörpers und die Repräsentationsfunktion des Zeichens nicht verbinden, und so entwickelt die Künstlerin ein Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Lesbarkeit.

 

Das Geschriebene verwandelt die Position des Betrachters in die des Lesers, bietet aber keine Transparenz an, es erschwert die Möglichkeit, den Stoff mit der Filmbildlichkeit zu verknüpfen. Dadurch gewinnt die Schrift den Status der Hieroglyphe mit ihren ursprünglichen Bedeutungen wie das Rätselhafte, Geheimnisvolle, Unlesbare. Ihre Struktur ist sowohl mit Sprach- wie auch mit Abbildqualitäten ausgestattet. Diese Kombination funktioniert nicht als ein harmonisches, wechselseitiges Miteinander. Die Visualität drängt sich vor die Funktionalität des Zeichens in den Vordergrund und erschwert somit die Dechiffrierung.

 

Diese Eigenschaft zeigt sich auch in den Arbeiten von Susanne Koheil. Die Schrift, die üblicherweise in ihrer rein dienenden Funktion gedacht ist, erhält durch die manuelle Abschrift der Abspanntexte Selbstständigkeit als Darstellungsmedium, das heißt als Schriftbild, Figur der Schrift, Textur des Bildes.

 

Nicht zufällig nennt die Künstlerin ihre Werkreihe NOTHING IS WRITTEN. Es genügt ihr nicht, das filmische Medium in ein malerisches zu transformieren und somit ihre Querverbindungen anzudeuten. Die Künstlerin entdeckt ein »interstitium«, einen zwischen den Medien existierenden Raum, in dem diese Medien ihre Verknüpfungsbasis finden – das Unsichtbare, die Undurchschaubarkeit.

 

Text: Dalia Klippenstein

 

[1] Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Kritische Schriften, hg. Von Wolfdietrich Rasch. München 1956, S. 349

[2] Vgl. Greber: Zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. 2002

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