Ursula-Fries

Ein Projekt von Susanne Koheil und Günter Wintgens

Foto: Susanne Koheil
Foto: Susanne Koheil

2011/12

 

Fries aus einem Schriftband: ein sich wiederholendes, erhabenes Schriftband aus blauem Hartschaum an der Giebelwand des Gebäudes: »FVIT TEMPORE PERVETVSTO«.[1] „Es war vor sehr langen Zeiten“ – mit diesem Titel beginnt die erste Aufzeichnung der Ursulalegende im zehnten Jahrhundert. Er lässt offen, ob es sich dabei um ein eher legendenhaftes oder tatsächliches Ereignis handelt. Unabhängig davon ist das gewaltlose Beharren Ursulas auf ihren Überzeugungen trotz aller Widrigkeiten für uns ein wesentlicher Aspekt. Dieser drückt sich in der fortlaufenden Wiederholung des Textes aus.

Installation und Dokumentation sind entstanden anlässlich der Rückführung der restaurierten Reliquienhäupter aus dem Gefolge der Heiligen Ursula nach Kloster Marienfeld. Text: Susanne Koheil | Günter Wintgens

 

[1] Erste Passio, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, S. 521, linke Kolonne, Herder 1976

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As Time Goes By

Gegenwart

Susanne Koheil, Günter Wintgens, Ursula-Fries 2011, Kloster Marienfeld
Foto: Susanne Koheil

… Die Gegenwart ist Ausdehnung in drei Richtungen. Begibt man sich an einen beliebigen Punkt der Vergangenheit oder der Zukunft, so wird dieser Punkt im Augenblick des Aufenthalts gegenwärtig und in drei Richtungen ausgedehnt sein. … Da der Raum um uns bewegungslos ist, bewegen wir uns, um ihn zu erforschen, im Vehikel der Dauer. … Wenn wir im absoluten Raum bewegungslos verharren könnten, während des Ablaufs der Zeit, d. h. uns plötzlich in eine Maschine einschlössen, die uns von der Zeit isolierte (abgesehen von der geringen normalen Geschwindigkeit der Dauer, in der wir auf Grund der Trägheit verharren werden), es würden alle zukünftigen oder vergangenen Augenblicke (…) nacheinander erforscht werden, so wie der sitzende Betrachter eines Panoramas die Illusion einer Reise durch rasch aufeinanderfolgende Landschaften hat. … Es muss noch gesagt werden, dass es für die Maschine zwei Vergangenheiten gibt: die Vergangenheit, die vor unserer Gegenwart liegt oder die reale Vergangenheit, und die von der Maschine konstruierte Vergangenheit, wenn sie zu unserer Gegenwart zurückkommt, und die nichts anderes als die Umkehrung der Zukunft ist. Ebenso kommt die Maschine, da sie die reale Vergangenheit nur auf dem Wege über die Zukunft erreichen kann, durch einen unserer Gegenwart symmetrischen Punkt, einen toten Punkt, wie jenen zwischen Zukunft und Vergangenheit, den man richtigerweise imaginäre Gegenwart nennen müsste. … Der Beobachter, der keine Maschine zur Verfügung hat, sieht die Ausdehnung der Zeit von diesseits der Mitte, genau wie man zunächst die Erde als Scheibe gesehen hat. Es ist einfach, aus dem Lauf der Maschine eine Definition der Dauer abzuleiten. Unter der Voraussetzung, dass sie die Reduzierung von t zu o und von o zu –t ist, können wir sagen: Die Dauer ist die Verwandlung einer Abfolge in eine Umkehr. Das heißt: Das Werden eines Gedächtnisses.[1]

 

 

Vergangenheit

Aus der Sicht der Gegenwart erscheint Vergangenheit als ein Film, dessen Handlung vertraut geglaubt wird. Dieser Film ist aber immer nur eine willfährige Verkettung einzelner Spots, gleichwohl die Referenz solcher Versatzstücke, eben die Quellen, sich einer Metapher bedienen, die, ausgehend von einem Ursprung, einen Fluss oder Strom zusammenhängender Geschehnisse vortäuscht. Tatsächlich aber sind die Zwischenräume und Übergänge, ist das nicht in Betracht Gezogene, Ausgeblendete oder schlichtweg Unbekannte größer als der eigentliche Film – weshalb Geschichte immer nur als ebenso dynamisches wie spekulatives Ergebnis einer selektiven, mutwilligen Auseinandersetzung mit an sich unüberschaubaren Abläufen gelten kann. Kurz: ein sich beständig wandelnder, imaginärer Bilderbogen, dessen Kolorit zudem spezifischen Bedingungen unterliegt und diese gleichsam prägt, wie Zeitgeschmack oder Machtansprüche. Entsprechend sind Geschichte und Gegenwart nicht linear miteinander verbunden. Vielmehr sind sie ungleichzeitig, insofern als die Vergangenheit in der Gegenwart weiterwirkt, ohne von dieser aufgehoben zu sein, weshalb Entwicklungen zwar realzeitlich gegenwärtig ablaufen, ihre realweltlichen Bindungen aber in unterschiedlichen kulturellen, politischen oder ökonomischen Zeiten liegen können. Diese Gemengelage markiert in ihrer alltäglichen Aneignung eine permanente Leistung, die beides ist: gelebt und gedacht.

 

Fuit tempore pervetusto – Es war einmal vor langer Zeit – leitet die erste Passio der Hl. Ursula[2] († um 304 oder 451?) ein. Der um 969/76 entstandene Text schildert das über ein halbes Jahrtausend zurückliegende Martyrium einer legendären Heiligen, deren keuscher Lebenswandel und Standhaftigkeit im Glauben bereits im 8./9. Jh. zu päpstlich sanktionierter Verehrung und volkstümlicher Gefühlsfrömmigkeit führten. Dass die Ereignisse zudem vor die Tore der Stadt Köln verortet wurden, stilisierte die Heilige zur amtlichen Identifikationsfigur der mittelalterlichen Domstadt – bis in die Gegenwart, wohingegen der religiöse Kult nach grotesken Blüten des Reliquienhandels im 14. Jh. mit der Reformation an Bedeutung verlor und einzig von den Jesuiten lebendig gehalten wurde.

 

Die erste schriftliche Passio[3] identifiziert Ursula als britannische Königstochter in uralten Zeiten, die ihre Schönheit und Jungfräulichkeit dem himmlischen Bräutigam vermacht hatte. Als ein mächtiger heidnischer König sie mit seinem Sohn vermählen wollte, ging Ursula, von einer göttlichen Offenbarung geleitet und um drohendes Blutvergießen zu vermeiden, zum Schein auf die Werbung ein – vorausgesetzt, sie dürfe noch drei weitere Jahre ihre Jungfräulichkeit bewahren und der zukünftige Gemahl lasse sich im christlichen Glauben unterweisen. Zudem verlangte sie zehn vornehme Gefährtinnen. Jeder der elf sollten weitere tausend Jungfrauen auf einem Schiff zur Seite gestellt werden. Nach Ablauf der Frist schickte Gott einen Wind, der die Schiffe in einem Tag und einer Nacht bis Tiel bei Nijmegen trieb. Von dort fuhren sie über Waal und Rhein stromaufwärts und landeten in Köln. In einer nächtlichen Vision offenbarte ein Engel Ursula und den Gefährtinnen ihr zukünftiges Schicksal: den Besuch im Rom und das Martyrium. Über Basel ging die Reise zu Fuß nach Rom, zurück nach Basel und per Schiff wieder nach Köln. Dort metzelten die Hunnen, die inzwischen die Stadt belagerten, die Gesellschaft brutal nieder. Allein Ursula wurde verschont und schließlich auf Befehl des Hunnenkönigs mit einem Pfeil getötet, da sie sich seiner Annäherung verweigert hatte. Als die Hunnen darauf die Schiffe plündern wollten, glaubten sie sich elf Legionen bewaffneter Krieger gegenüber und ergriffen die Flucht. Die befreiten Kölner fanden die Leichen der Frauen und bestatteten sie vor den Toren der Stadt.

 

Die Erscheinungen der Hl. Elisabeth von Schönau (1129–1164), eine weit verbreitete zweite Passio der Hl. Ursula – Regnante Domino (Der regierende Herr) – und die Aufnahme der Geschichte in die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (1230–1298) – Von den elftausend Jungfrauen – zeugen von der andauernden Faszination für die Geschichte, deren historische Wahrhaftigkeit zudem seit dem Fund eines Massengrabes vor der Stadtmauer des römischen Kölns 1106 bestätigt schien.

 

 

Gegenwart der Vergangenheit

* Die Gegenwart der Vergangenheit

Die Begleiterscheinung der 11.000 Jungfrauen ließ die Heilige zu einem idealen Vehikel der Glaubensverbreitung und zu einem Instrument der Bindung an die kirchlich gesteuerte Heilsgeschichte werden. Stand damit doch ein unerschöpflicher Fundus an Reliquien zur Verfügung. Tatsächlich geht die Zahl 11.000 vermutlich auf einen Lesefehler zurück, zumal in frühen Texten lediglich von 11 Jungfrauen die Rede ist. Einerseits könnte die Angabe XI.M.V (11 martyres virgines) fälschlich als 11 milia virgines verstanden worden sein. Andererseits mag sich die Vertausendfachung der Auslegung des Zahlzeichens XI, überfangen von einem Balken, schulden. Letzterer diente wahrscheinlich der Hervorhebung der Zahl und nicht der Angabe von tausend, wobei in römischen wie in mittelalterlichen Inschriften beide Lesarten möglich waren und sich meist durch den Textzusammenhang erklärten.

 

Fuit tempore pervetusto ist damit behauptete Vergangenheit – ein Modell der Bereitstellung und Wirkmacht vergangener Ereignisse, deren eigene Gegenwart selbst bereits imaginär war. Aber nicht nur die Potenz sich einschleichender Fehler unterwandert vermeintlich gesicherte Orientierungsleistungen einer Alltagspraxis, die das Faktische als Parameter der Geschichtsschreibung anführt. Auch wird die Suche nach dem Ursprung oder Urstoff zum Verständnis der eigenen Lebenswelt eingeholt von der Gefahr, die Suche selbst mit den Bedingungen und der Wirklichkeit der Lebenswelt von heute zu verwechseln. Anders gesagt: Der individuelle Prozess der Aneignung von Vergangenheit wird zu einer Sinnprothese, die es vermag, das Hier und Jetzt abzutasten und damit erfahrbar zu machen – letztlich ein bizarres Phänomen. Selbst und Kontext scheinen unlösbar miteinander verwoben, schlägt die Gegenwart doch beharrlich auf ihren Ausgangspunkt zurück, der naturgemäß ein blinder Fleck bleibt. Denn wie im Sehakt der bloße Augenschein erst in Verbindung mit der Bedeutung zur Wahrnehmung wird, ist die Vergangenheit nicht selbstverständlich im Sinne der Beobachtung eines eigengesetzlichen Gegenübers. Als Geschichte lokalisiert sie im Kopf – und wird dort permanent verlebendigt wie verdichtet im Gedächtnis, das sich selbst bekanntlich nicht vorstellen kann.

 

Text: Marcus Lütkemeyer

 

[1] Alfred Jarry: Nutzbringende Erläuterungen zum sachmäßigen Bau einer Maschine zur Erforschung der Zeit, in: Klaus Völker (Hrsg.): Alfred Jarry. Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1987, S. 178 ff. und 191 f.

[2] Zur Legende der Hl. Ursula vgl. Gernot Nürnberger: Die Ausgrabungen in St. Ursula zu Köln, Bonn 2002, S. 137 ff.; www.heilige-ursula.de; http://www.heiligenlexikon.de/BiographienU/Ursula_von_Koeln.htm

[3] Passio = Leidensgeschichte der Märtyrer

 

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